Am 14.05.2019 hat der EuGH eine seiner wohl populärsten Entscheidungen der letzten Jahre getroffen. Danach müssen die EU-Mitgliedstaaten die Arbeitgeber verpflichten, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzurichten, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann.
Die weitaus überwiegende Mehrheit in der juristischen Literatur vertritt seither die Auffassung, dass es sich hierbei allein um eine Handlungsverpflichtung für die EU-Mitgliedstaaten handele. Und die könne mit einer “Umsetzungsfrist” nun einmal dauern, sodass vielerorts auf ein Tätigwerden des deutschen Gesetzgebers gewartet wird.
Doch jetzt droht den Unternehmen Ungemach: Erste Arbeitsgerichte urteilen, dass die Verpflichtung zur Erfassung der Arbeitszeiten den Arbeitgeber aufgrund der unmittelbaren Anwendbarkeit von Art. 31 Abs. 2 EUGrundrechte-Charta (im Folgenden: GrCh) treffe, auch ohne, dass es hierzu einer richtlinienkonformen Auslegung des § 16 Abs. 2 ArbZG oder einer Umsetzung durch den deutschen Gesetzgeber bedürfe.
(Erste) Arbeitsgerichte warten nicht auf Gesetzgeber
Einige Stimmen wiesen andererseits schon frühzeitig darauf hin, dass der Arbeitszeitrichtlinie eine unmittelbare Wirkung zukommen könnte, u.a. da der EuGH seine Entscheidung auch auf Art. 31 Abs. 2 GrCh stützt. Zumindest hat der EuGH bereits in der Vergangenheit angedeutet, dass unionsrechtliche Grundsätze, wie sie durch die Grundrechtecharta festgeschrieben sind, gegebenenfalls auch zwischen Privaten wirken.
Das Arbeitsgericht Emden hat nun in einer der ersten bekannten (Folge-)Entscheidung zu dem Urteil des EuGH festgestellt, dass schon jetzt eine Verpflichtung für Arbeitgeber bestehe, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzurichten (ArbG Emden vom 20.02.2020 – 2 Ca 94/19).
Die hieraus vom Arbeitsgericht Emden hergeleiteten Rechtsfolgen haben für Unternehmen erhebliche wirtschaftliche Folgen.
Die Entscheidung des Arbeitsgerichts Emden
In dem der Entscheidung des Arbeitsgerichts Emden zugrundeliegenden Fall ging es unter anderem um die Geltendmachung von Vergütungsansprüchen. Der Kläger war im Jahr 2018 für mehrere Wochen bei dem Beklagten aufgrund eines mündlich abgeschlossenen Arbeitsvertrages als Bauhelfer beschäftigt gewesen. Nachdem das Arbeitsverhältnis von dem Beklagten gekündigt worden war, machte der Kläger neben einem Aufwendungsersatz Zahlungsansprüche für vermeintlich von ihm erbrachte Arbeitsleistungen geltend. So habe er während der Dauer seiner Beschäftigung für den Beklagten auf zwei unterschiedlichen Baustellen 195,05 Stunden gearbeitet, der Beklagte habe jedoch lediglich 183 Stunden angesetzt und vergütet. Zum Nachweis verwies er auf eine von ihm erstellte Übersicht und „Stundenrapporte“.
Der Beklagte bestritt den zeitlichen Umfang der vom Kläger behaupteten Arbeitsleistungen und verwies zum Nachweis auf das Bautagebuch, mit dessen Hilfe die Stundenerfassung bei Arbeitsbeginn und Arbeitsende erfolgt sei. Hieraus ergebe sich eine tatsächliche zu entlohnende Stundenanzahl von 183 Stunden. Fahrtzeiten von und nach Hause würden nicht bezahlt.
Das Arbeitsgericht Emden hat der Klage im Hinblick auf den vorangehend beschriebenen und von dem Kläger geltend gemachten Vergütungsanspruch stattgegeben. Nach Überzeugung des Gerichts hat der Kläger danach im streitgegenständlichen Zeitraum insgesamt 195,05 Stunden abgeleistet. Zur Begründung verweist es auf die im Vergütungsprozess bestehende abgestufte Darlegungs- und Beweislast. Der Arbeitnehmer müsse demnach zunächst vortragen und darlegen, an welchen Tagen er von wann bis wann Arbeit geleistet oder sich auf Weisung des Arbeitgebers zur Arbeit bereitgehalten habe. Danach obliege es dem Arbeitgeber, sich seinerseits substantiiert zum Vortrag des Arbeitnehmers zu erklären und darzulegen, welche Arbeiten er dem Arbeitnehmer zugewiesen habe und an welchen Tagen der Arbeitnehmer von wann bis wann diesen Weisungen – ggf. nicht – nachgekommen sei. Lasse sich der Arbeitgeber hierauf nicht substantiiert ein, so gelte der Sachvortrag des Arbeitnehmers gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden.
Verstoß gegen Verpflichtung zur Einrichtung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit festgestellt
Der Kläger sei der ihn treffenden Darlegungslast auf erster Stufe in ausreichendem Maße nachgekommen. So habe er unter Vorlage von Eigenaufzeichnungen die seinerseits geleisteten Arbeitszeiten im streitgegenständlichen Zeitraum im Einzelnen vorgetragen. Der Vortrag des Beklagten sei demgegenüber diesbezüglich nicht hinreichend, sodass die seitens des Klägers vorgetragenen Arbeitszeiten als zugestanden gälten.
Denn der Beklagte habe gegen die ihn gemäß Art. 31 Abs. 2 GrCh bestehende Verpflichtung zur Einrichtung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit des Klägers verstoßen. Daher habe er auch keine objektiven und verlässlichen Daten vorlegen können, anhand derer sich die Arbeitszeiten des Klägers nachvollziehen lassen würden.
Das Bautagebuch sei ungeeignet, zu belegen, welche Arbeiten der Beklagte dem Kläger zugewiesen habe und an welchen Tagen dieser diesen Weisungen nachgekommen sei oder nicht. Etwaige notwendige Anfahrts- und Rüstzeiten, die auch arbeitsvertragliche Arbeitszeiten seien, seien etwa im Bautagebuch nicht aufgezeichnet.
EuGH-Entscheidung begründet unmittelbare Handlungspflicht für Arbeitgeber
Die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Einrichtung eines Systems zur Arbeitszeiterfassung ergibt sich nach Auffassung des Arbeitsgerichts Emden aus einer unmittelbaren Anwendung von Art. 31 Abs. 2 GrCh, in dessen Licht die Art. 3, 5 und 6 der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG auszulegen seien. Die von der Arbeitszeitrichtlinie aufgestellten Bestimmungen stellten insoweit Konkretisierungen des Grundrechts aus Art. 31 Abs. 2 GrCh dar.
Die genannte Verpflichtung zur Erfassung der Arbeitszeiten treffe den Arbeitgeber aufgrund der unmittelbaren Anwendbarkeit von Art. 31 Abs. 2 GrCH, ohne dass es hierzu einer richtlinienkonformen Auslegung des § 16 Abs. 2 ArbZG oder einer Umsetzung durch den deutschen Gesetzgeber bedürfe.
Die aus Art. 31 Abs. 2 GrCh folgende Verpflichtung des Arbeitgebers zur Einrichtung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems zur Arbeitszeiterfassung sei als vertragliche Nebenpflicht im Sinne des § 241 Abs. 2 BGB zu klassifizieren, nach dem die Arbeitsvertragsparteien zur Rücksichtnahme auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des jeweils anderen Vertragsteils verpflichtet seien.
Entscheidung des Arbeitsgerichts Emden überzeugt
Die Entscheidung des Arbeitsgerichts und deren Begründung überzeugen. Denn bereits einige Monate vor dem Urteil vom 14. Mai 2019 zur Arbeitszeiterfassung hat der EuGH in zwei Entscheidungen festgestellt, dass sich aus dem ebenfalls in Art. 31 Abs. 2 GrCh verbrieften Recht auf bezahlten Jahresurlaub ein unmittelbarer Anspruch des Arbeitnehmers gegen seinen Arbeitgeber ergibt, ohne dass es einer Umsetzungsentscheidung des nationalen Gesetzgebers bedürfte (vgl. EuGH v. 6. November 2018, C-569/16 und C-570/16).
Wie das Arbeitsgericht Emden zutreffend ausführt, kann sich im Hinblick auf die Begrenzung der Höchstarbeitszeit und der täglichen und wöchentlichen Ruhezeiten sowie der hieraus resultierenden Verpflichtung zur Einrichtung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Arbeitszeiterfassungssystem nichts anderes ergeben. Die Frage der unionsrechtskonformen Auslegbarkeit von § 16 Abs. 2 ArbZG kann insoweit dahinstehen.
Erhebliche wirtschaftliche Risiken rollen auf die Praxis zu
Für die Praxis birgt die Entscheidung des Arbeitsgerichts Emden aber erhebliche wirtschaftliche Risiken. Führt man sich vor Augen, dass das Gericht die Vorlage von Eigenaufzeichnungen als hinreichenden Nachweis für vermeintlich erbrachte Arbeitsleistungen angesehen hat, während die Vorlage eines Bautagebuchs, welches sogar unter Mitwirkung des Arbeitnehmers erstellt wurde, als völlig irrelevant erachtet wurde, zeigt sich, welche niedrigen Hürden künftig für entsprechende Vergütungsklagen zu befürchten sind. Daneben werden auch die Arbeitsschutzbehörden die Entscheidung aufmerksam lesen.
Die Entscheidung des Arbeitsgerichts Emden ist dabei zwar sicherlich nicht die letzte Entscheidung zu dieser Thematik, sondern erst der Anfang. Das Urteil macht aber deutlich, dass die Empfehlung, zunächst einmal die vermeintlich notwendige Umsetzung des deutschen Gesetzgebers abzuwarten, überdacht werden muss.
Mehr noch: Für Arbeitgeber besteht im Hinblick auf die Einrichtung eines Systems zur Arbeitszeiterfassung dringender Handlungsbedarf – und zwar schon jetzt!