Nach einer aktuellen Entscheidung des BAG besteht für Arbeitgeber weiterhin die Möglichkeit, im Rahmen des § 3 BetrVG „passgenaue“ betriebliche Strukturen zu schaffen, ohne dabei den Kündigungsschutz für Betriebsratsmitglieder unverhältnismäßig zu erweitern. Hierdurch wird vermieden, dem Arbeitgeber die Bürde aufzuerlegen, einen Arbeitsplatz in einem von der Betriebsstilllegung nicht betroffenen Betrieb innerhalb betriebsverfassungsrechtlich gebildeter Organisationseinheiten freizumachen.
Sachverhalt
Die Parteien stritten über die Wirksamkeit einer vom beklagten Arbeitgeber ausgesprochenen, ordentlichen betriebsbedingten Kündigung. Auf Basis eines „Strukturtarifvertrags“ hatten die Beklagte sowie weitere Konzerngesellschaften für ihre drei Betriebsstätten eine betriebsverfassungsrechtliche Organisationseinheit gebildet, für die nur ein Betriebsrat gewählt werden sollte. Der Kläger war Ersatzmitglied dieses Betriebsrats. Im Juni 2017 wurde die Betriebsstätte der Beklagten, in der der Kläger beschäftigt war, geschlossen und anschließend das Arbeitsverhältnis des Klägers ordentlich gekündigt. Der Kläger war der Auffassung, er genieße Sonderkündigungsschutz nach § 15 Abs. 1 KSchG. Aufgrund der durch den Tarifvertrag geänderten betrieblichen Strukturen liege eine Betriebsstilllegung im Sinne des § 15 Abs. 4 KSchG nicht vor, weil nicht sämtliche der zu einer Organisationseinheit zusammengefassten Betriebsstätten stillgelegt worden seien. Die Beklagte hingegen meinte, die ordentliche Kündigung sei nach § 15 Abs. 4 KSchG zulässig und gemäß § 1 Abs. 2 KSchG auch sozial gerechtfertigt, da sie den Beschäftigungsbetrieb des Klägers stillgelegt habe und eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit im Unternehmen nicht bestehe. ArbG und LAG haben der Kündigungsschutzklage stattgeben. Das BAG verwies hingegen mit Urteil vom 26. Juni 2019 (Az. 2 AZR 38/19) den Rechtsstreit zur Entscheidung an das LAG zurück.
Entscheidung
Der Senat teilt die Ansicht des LAG, eine ordentliche Kündigung des Klägers sei nach § 15 Abs. 1 KSchG unwirksam, da nicht sämtliche Betriebe stillgelegt wurden, für die der Betriebsrat nach dem Strukturtarifvertrag zuständig war, nicht. Vielmehr genüge es, wenn der Betrieb, in dem der Kläger de facto beschäftigt wurde, geschlossen werde. Zunächst betont der Senat, dass KSchG und BetrVG grundsätzlich vom allgemeinen, an die tatsächliche Organisationsstruktur anknüpfenden Betriebsbegriff ausgehen. Eine nach § 3 BetrVG geschaffene Arbeitnehmervertretungsstruktur an sich schaffe keinen (einheitlichen) Betrieb. Vielmehr werde ein einheitlicher Betrieb bloß fingiert. Diese Fiktion sei ausweislich des eindeutigen Wortlauts des § 3 BetrVG auf das BetrVG beschränkt. Für kündigungsschutzrechtliche Sachverhalte sei daher der allgemeine Betriebsbegriff maßgeblich.
Eine Berücksichtigung alternativer betrieblicher Strukturen gemäß § 3 BetrVG im Rahmen des Kündigungsschutzes ginge zudem zulasten des Kündigungsschutzes von Arbeitnehmern anderer Betriebe. Würde man die nach § 3 BetrVG geschaffene Organisationseinheit als Betrieb im Sinne des § 15 Abs. 4 KSchG ansehen, würde die Stilllegung eines tatsächlichen Betriebs eine Stilllegung einer Betriebsabteilung nach § 15 Abs. 5 KSchG darstellen mit der Folge, dass die im stillgelegten (tatsächlichen) Betrieb beschäftigten Betriebsratsmitglieder einen betriebsübergreifenden „Übernahmeanspruch“ geltend machen könnten. Der Arbeitgeber wäre dann verpflichtet, Arbeitsplätze außerhalb des Beschäftigungsbetriebs freizumachen. Entgegen dem betriebsbezogenen Ansatz des KSchG würden damit Betriebsratsmitglieder Arbeitnehmer anderer Betriebe verdrängen. Ferner beeinträchtige eine am allgemeinen Betriebsbegriff orientierte Auslegung nicht den mit § 15 KSchG verfolgten Zweck. Der Schutz der Unabhängigkeit und die Kontinuität der Betriebsratsarbeit seien für die Mitglieder alternativer Arbeitnehmervertretungen in dem gleichen Umfang wie für Mitglieder „klassischer“ Betriebsräte gewährleistet. Ein Schutz „um jeden Preis“ sei von § 15 KSchG nicht intendiert.
Da es nach Ansicht des Senats also auf den allgemeinen Betriebsbegriff ankommt, prüft er sodann anhand dieses Begriffs, ob sich der beklagte Arbeitgeber durch den Strukturtarifvertrag mit den anderen Konzerngesellschaften zu einem gemeinsamen Betrieb zusammengeschlossen hat. Der Senat kommt zu dem Schluss, dass die für die Annahme eines gemeinsamen Betriebs notwendige unternehmensübergreifende Organisationsstruktur nicht vorliegt. Gegenstand des Strukturtarifvertrags sei vielmehr ausschließlich die Schaffung einer betriebsverfassungsrechtlichen Organisationseinheit, für die – abweichend von den tatsächlichen Gegebenheiten – ein einheitlicher Betriebsrat gewählt werden sollte.
Einordnung
Die Entscheidung ist zu begrüßen. Durch sie wird der in § 15 KSchG vorgesehene differenzierte Ausgleich zwischen Vertragsfreiheit des Arbeitgebers und Schutz der Arbeitnehmervertretung sachgerecht fortgeschrieben. Richtigerweise nimmt der Senat an, einen Schutz der Betriebsratsmitglieder um jeden Preis – d.h. auch zulasten Arbeitnehmer anderer Betriebe – verfolge die Vorschrift nicht. So wird vermieden, dem Arbeitgeber die Bürde aufzuerlegen, einen Arbeitsplatz in einem von der Betriebsstilllegung nicht betroffenen Betrieb freizumachen (was in unternehmensübergreifenden Sachverhalten auch gar nicht möglich wäre). Lässt sich eine Verdrängung anderer Arbeitnehmer in den innerbetrieblichen Teilstilllegungsszenarien des § 15 Abs. 5 KSchG noch mit der Funktionsfähigkeit des für den Betrieb gewählten Betriebsrats rechtfertigen, scheitert der Ansatz bei einer nach § 3 BetrVG gebildeten Struktur, da zum einen die Grenzen des Betriebs überschritten werden und zum anderen letztlich eine frei gewählte Organisationsstruktur zulasten des Kündigungsschutzes von Arbeitnehmern nicht betroffener Betriebe ginge.
Für Arbeitgeber besteht damit weiterhin die Möglichkeit, im Rahmen des § 3 BetrVG „passgenaue“ betriebliche Strukturen zu schaffen, ohne dabei den Kündigungsschutz für Betriebsratsmitglieder unverhältnismäßig zu erweitern.